Es war zur Mitte des Jahres, als der Tross der Vagabunden Renis sich erhob, um erneut den Marktfeldern von Gütersloh Ehre und Spuren zu hinterlassen. Doch noch ehe das erste Rad die Straße küsste, erhob sich ein uralter Feind: die Sützlast. Sie bog sich, sie zankte, sie verweigerte sich, als hätte Loki selbst Hand an die Achsen gelegt. Der Jarl, sonst Herr des Weges und der Ordnung, packte, fluchte, entpackte, verfluchte – und packte erneut. Drei Mal stand das Schicksal auf des Messers Schneide. Drei Mal siegte der Wille. Und so zog der Tross.




Der Himmel war grau, als wir das Land betraten, das uns für sechs Tage Heimat werden sollte. Grau – nicht wie Stein, sondern wie nasse Asche. Und bald schon öffnete er sich über uns, als hätte der Allvater selbst sein Trinkhorn fallen lassen. Regen – kalt, schwer, unnachgiebig – peitschte über den Platz. Doch es war nicht der erste Sturm, dem wir die Stirn boten. Der Aufbau begann. Kisten flogen, Planen spannten sich, Stangen sanken in den Boden wie Speere ins Fleisch. Die Rufe hallten: „Halt das! Heb an! Fest da!“ – und aus Chaos wurde Ordnung. Hände griffen zu, Schultern stemmten, Zungen fluchten. Der Jarl, mit dem Blick eines Mannes, der jede Kiste kennt, jede Öse mit Namen verflucht hat, schritt wie ein Heerführer durch die Reihen. Und dann – so schnell wie der Regen kam – stand das Lager. Unter drei Stunden. Ein Rekord. Ein Wunder. Ein Zeichen. Nie zuvor hatten wir so rasch das Banner gehisst, nie so standhaft die Zelte verankert. Manche sagten, es sei der Zorn des Jarls gewesen, andere, dass die Götter Mitleid hatten. Wir aber wussten: Es war der Wille der Vagabunden.






Und während der Himmel noch trauerte, kam neues Leben ins Lager: Der kleine Thore, Sohn des Arne, kaum zwölf Wochen jung, erblickte zum ersten Mal das Licht des Lagerfeuers. Der Jarl sprach: „Er wird groß werden. Vielleicht größer als sein Vater – aber hoffentlich behaarter.“ Auch Laurenja Froskheim, Tochter von Karl dem Weisen, vom Blute des Jarls, aus der sagenumwobenen Froschsippe, betrat zum ersten Mal unser Rund auf einem Markte – ein fröhliches Erstlager, wie es im Buche der Vagabunden stehen muss. In der Mitte des Lagers entstand ein Tempel des Dampfes: Tippis Duschzelt. Höher als nötig, heißer als erlaubt, sorgte es für stille Freude bei denen, die der Schlamm bereits am zweiten Tag an den Fersen küsste.





Am Mittwochabend senkte sich Ruhe übers Lager. Die Feuer glommen, das Mahl war genommen, und der Rauch von Holz, Fleisch und Geschichten lag schwer in der Luft. Da erhoben sich der Jarl und die Völva, mit langsamen Schritten, als würde sie der Wind selbst aus dem Kreis tragen. Man sah sie ins Zelt schreiten – schweigend, mit der würdevollen Ruhe zweier alter Geister, die sich in der Dunkelheit zu beraten schienen. Manche meinten, sie suchten den Schlaf. Andere, sie riefen die Ahnen. Die Wahrheit jedoch kam in Form von knarzenden Zeltklappen und energischen Schritten zurück ans Feuer. Plötzlich stand die Völva wieder vor uns, in der Hand nichts als Entschlossenheit, im Blick Sturm und Fragwürdigkeit. „Ich brauche… was zum Schrauben!“, rief sie in die Runde, als sei es ein alter Fluch oder ein verloren gegangener Kampfschrei. Man reichte ihr eilig einen Akkuschrauber. Ein Artefakt von Markus, funktional, robust – aber er konnte nur „Plus“. Die Völva musterte ihn, als hätte man ihr einen Fisch statt einer Waffe gereicht. „Das ist zu wenig, das ist nur Plus“, murmelte sie, halb zu uns, halb zu sich selbst. „Ich brauche Torks, sonst… dreht sich gar nichts.“ Und so durchstreifte sie das Lager, fluchend auf geheimem Wege, ein Wesen zwischen Welten, das offenbar mehr wusste über Werkzeuge, als man ihr zutraute. Dann fand sie ein paar Kisten, mit denen verschwand sie erneut im Zelt – und mit ihr die Ahnung, dass hier vielleicht mehr geschraubt wurde, als nur an Zeltschnallen.

Und dann war da noch dieser eine Moment, der so unscheinbar war, dass er leicht übersehen worden wäre – hätte er nicht eine tiefere Bedeutung getragen. Am Donnerstagabend, als das Feuer loderte und die Nacht schwer auf den Schultern lag, geschah es. Der Huskarl, gestählt durch Taverne, Worte und Wind, übernahm eine der edelsten, wenn auch unterschätzten Aufgaben des Haldor: Er schlief am Feuer ein. Nicht irgendwie – sondern mit jener unerschütterlichen Ruhe, jener epischen Körperhaltung, die sonst nur Haldor selbst beherrschte. Die Beine leicht angewinkelt, die Arme verschränkt wie in Erwartung eines Feindes, das Gesicht gelassen wie eine Statue des Schlummers. Man hätte glauben können, er bewache das Feuer aus dem Reich der Träume. Es war kein bloßes Einschlafen – es war eine Lagerwache der anderen Art. Eine Übergabe der Pflicht im Zeichen des Ausruhens. Und wer an diesem Abend am Feuer saß, wusste: Haldor hätte stolz genickt.


Am Samstagabend, als der Mond wie ein silberner Helm über Gütersloh stand und der Dunst des Tages sich in Bier auflöste, begaben sich einige der Unseren auf einen nächtlichen Ausflug. Der Jarl, der Huskarl, die Völva, Tnorsten und Tippi – fünf Vagabunden, fünf Seelen, fünf Gründe, dem Wirtshaus Respekt zu zollen. Was dort geschah, wird nur in Bruchstücken erzählt – zu viele Kräuter, zu viele Humpen, zu wenige Zeugen mit klarem Blick. Man sagt, die Völva sprach in Rätseln von Gewittern in Neuss, und ihre Augen blitzten dabei wie Donnerschatten. Der Huskarl hingegen verlor sich tief in Gedanken über Züge und Tunnel – er sprach davon, als wären es Orte, die man bereisen könne, wenn man nur tief genug trinke. Tippi hörte schweigend zu, während Tnorsten versuchte, mit dem Bier zu flirten – oder umgekehrt. Der Jarl schwieg lange, dann lachte er. Kein langes, kein lautes Lachen – aber eines, das die Bank erzittern ließ. Die Stimmung wurde eine Mischung aus Rausch, Ahnung und Wahnsinn. In der Ecke sang ein Barde das falsche Lied zum richtigen Ton. Irgendwer verlor seinen Stiefel. Irgendwer fand ihn wieder – an einem anderen Bein. Am Ende war keiner mehr sicher, ob sie noch in Gütersloh oder längst in einer anderen Welt weilten. Doch dann, zurück im Lager bei Dämmerlicht, geschah das Unerhörte. Aus einem fremden Lager – laut, lärmend, schamlos – kam ein Wort, ein Spott, ein Schattenwurf gegen unsere Ida. Es war kein großer Lärm, nur ein kleiner Hohn. Doch der Jarl hörte es. Und das reichte. Er hielt inne, langsam, wie ein Mann, der nicht gern gezwungen wird zu stehen. Er drehte sich, der Rücken gestreckt, der Blick schwer wie ein Fels in der Brandung. Und er sprach nur diesen einen Satz, leise, klar, wie ein Schwur in kaltem Eisen: „Dies wird ein Nachspiel haben.“ In diesem Moment verstummte selbst der Wind.






Der Samstag schritt weiter vorran, und mit ihm die düstere Prophezeiung. Die Gelehrten der Himmel sprachen von Regenflut, von Sturm und Donner, von der Wiederkehr des nassen Ragnarök. Der Jarl zögerte nicht. Er rief zur Wetterwacht. Mit ihm traten Üwey, Arne und Tnorsten dieser nur zu Beginn an, still, entschlossen, bewaffnet mit Kaffee, Decken und einer Prise Trotz. Sie saßen in der Finsternis, das Feuer glimmte, der Himmel schwieg. Und immer wieder sprach der Jarl, wie ein Mantra gegen die Müdigkeit: „In fünf Minuten noch zehn Minuten, dann haben wir es geschafft.“ Der Sturm kam nicht. Vielleicht, weil er sich nicht traute.

In den stilleren Stunden, wenn der Rauch vom Feuer träge über den Zelten schwebte und das Klirren der Becher einem friedlichen Knistern gewichen war, geschah das Unerwartete. Ein paar Hände – ob aus Schalk, Übermut oder stiller Zuneigung – griffen zu den Butterblumen am Wegesrand. Sie flochten sie nicht achtlos, sondern mit Bedacht, mit fast ritueller Genauigkeit in den Bart des Üwey. Der Grumpy-Bär, sonst eher grummelnd als gesprächig, saß da und ließ es geschehen, als sei er ein alter Baum, dem man Geschichten in die Rinde schnitzt. Und siehe – ein Lächeln. Kein kurzes Zucken, kein zufälliges Zucken im Gesicht. Nein – ein echtes, stilles, warmes Lächeln, das von irgendwo tief aus dem Inneren kam, wo der Zorn schläft und der Frieden wohnt. Manche sagten, sie hätten ihn in diesem Moment fast pfeifen hören.

Später, als der kleine Thore auf seinem Schoß lag – dieses winzige Bündel Zukunft, schnarchend wie ein ganz Großer – da geschah es noch einmal. Ein zweites Lächeln. Breiter. Zarter. Und wer es sah, schwieg. Denn das, was da zwischen Bart und Baby passierte, war heiliger als jedes Gebet.
Nicht weit davon, im Duft von Röstkorn und alten Kräutern, saß die Völva am Feuer und zeigte Tippi die hohe Kunst des Popcorns. Es knallte, es duftete, es dampfte – und Tippi, gelehriger Schüler wie selten, tat das einzig Kluges: Er schaute zu und aß. Mit vollem Mund und leuchtenden Augen verfolgte er das Ritual, als säße er im Tempel einer alten Göttin. Und das Gleichgewicht der Welt war wiederhergestellt.
Ida indes betrachtete Üwey mit diesem Blick, der aus Necken Achtung macht, und sprach mit feierlichem Ernst: „Du bist eine lockenhafte Mutti mit Magnesium.“ Niemand wusste, was genau das heißen sollte – doch alle nickten zustimmend. Denn irgendwie… passte es.
Und immer wieder kamen Musikanten, als hätte jemand am Lager einen unsichtbaren Faden zu alten Reichen gezogen. Asa Tru. Seinerzeit. Ihre Klänge hallten zwischen Heringen und Helmen, trugen unsere Herzen für Momente fort, hinaus über das Marktgetümmel, hinein in etwas Zeitloses. Zwischen Popcorn, Blütenbart, Babylächeln und Saitenklang war für einen kostbaren Augenblick alles gut. Nicht perfekt. Aber gut genug, dass man es behalten möchte – in Liedern, in Träumen, in Chroniken wie dieser.






Es war – und das wird man ihm noch lange nachsagen – der Markt des Tnorsten. Zwei Vorschläge brachte er ein. Zwei. Und beide wurden angenommen. Das allein wäre schon Stoff für Lieder, denn wer Tnorsten kennt, weiß: seine Worte sind viele, sein Geist schnell, seine Gedanken… nun ja, sagen wir: oft ihrer Zeit voraus oder schlicht jenseits der bekannten Zeitrechnung. Doch diesmal – diesmal traf er ins Schwarze. Erst schlug er vor, die Prototypbank an die Küche zu stellen, statt sie unter der Plane zu verstecken – ein Gedanke, so schlüssig, dass der Jarl nach kurzem Schweigen nur nicken konnte. Und dann, kaum war das erste Wunder verklungen, folgte das zweite: der Vorschlag, beim Rückweg von Freunden gleich Feuerholz mitzubringen, statt es abends wieder mühsam zu suchen. Zwei Siege in zwei Sätzen. Wer ihn hörte, schwankte zwischen Staunen und einem gewissen Misstrauen. War er krank? Von Geistern besessen? Oder schlicht endlich wach? Doch der Jarl sprach es aus: „Das war klug.“ Und damit war es Gesetz.

Und siehe, in jener Nacht, als die Nebel sich dicht über das Lager legten und das Knacken des Feuers leise Geschichten erzählte, geschahen Dinge, die selbst altgediente Streiter zum Schweigen brachten. Ein leises Flimmern kündete es an – kaum wahrzunehmen für das ungeschulte Auge – und doch geschah es: Das Bernsteinzimmer selbst, verloren geglaubt in den Schatten der Geschichte, tauchte inmitten unseres Lagers auf, als wäre es nie fort gewesen. Kaum hatten sich unsere Sinne gefangen, da offenbarte sich das nächste Wunder:
Ein Einhorn, stolz und scheu zugleich, trat durch das Gras, seinen Schweif von Sternenlicht durchzogen, das Horn wie aus Morgentau gesponnen. Es verweilte kurz, blickte uns wissend an – und verschwand, wie es gekommen war. Doch all dies verblasst gegen die Kunde, die daraufhin das Lager erschütterte:
Der Jarl – ja, unser Jarl – wurde an der Spülschüssel gesehen.
Die Hände im Seifenwasser, die Stirn in Falten, das Gesicht von seltsamer Ruhe umgeben.
War es ein Trugbild? Eine Erscheinung?
Ein Zeichen der Endzeit? Der Chronist vermerkt es pflichtbewusst, doch mit bebender Feder –
ob diese Begebenheiten wahrhaftig sind oder nur vom Met geboren, wird die Geschichte nicht richten.
Denn manche Dinge sollten vielleicht nie ganz aufgeklärt werden.












Der Abbau kam, wie er kommen musste – nur schneller. Sonntag: eine Stunde Vorbereitung. Montag: anderthalb Stunden Beladen. Der Tross zog um halb zehn, nicht um elf. Selbst das Ausladen daheim dauerte kaum eine Stunde. Alles funktionierte. Und das, in einer Welt, in der Tnorsten plötzlich Recht behalten hatte. Mancher murmelte: „Unheimlich.“ Mancher flüsterte: „Apokalypse?“ Wir aber wissen: Auch ein wildes Maul kann manchmal Gold spucken – und wenn es passiert, dann mitten im Schlamm von Gütersloh.


So verließen wir Gütersloh mit Regen in den Stiefeln, Butterblumen im Bart, einem Kind im Schoß, Musik im Ohr und einem Braten, der für ein ganzes Dorf gereicht hätte. Und über allem lag ein Satz, der zum Fluch, zum Gebet, zum Lagermantra wurde: „In fünf Minuten noch zehn Minuten, dann haben wir es geschafft.“